Gottes Nähe erfahren
„Näher, mein Gott, zu dir“, heißt ein englisches Kirchenlied aus dem 19. Jahrhundert. Es spricht von der Sehnsucht nach Gott in Zeiten der Anfechtung: „Trotz Kreuz und Pein soll dies meine Losung sein: Näher, mein Gott, zu dir, näher zu dir.“ Traurige Berühmtheit hat das Lied erlangt, weil es beim Untergang der Titanic als letztes gespielt worden ist. Ein Baptistenprediger soll die Musiker darum gebeten haben. Das lässt sich als Zynismus verstehen oder als Versuch, in einer verzweifelten Lage Trost zu spenden.
Gottes Nähe zu erfahren ist eine Sehnsucht, die tief in uns angelegt ist. In den Psalmen wird diese Sehnsucht mitunter herausgeschrien: „Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir.“ In vielen neuzeitlichen Lobpreisliedern wird die Nähe Gottes gesucht und die ausgestreckten Arme beim Singen tragen diese Sehnsucht weiter.
Erstaunlich! Der Spruch für September stellt sich dieser Sehnsucht scheinbar entgegen und wirkt irritierend: „Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der Herr, und nicht auch ein Gott, der ferne ist?“ (Jeremia 23, 23) Der Prophet Jeremia muss so reden, weil sich die Menschen in Jerusalem der Nähe Gottes zu sicher sind. Sie meinen, Gott muss uns Gutes tun, er hat es versprochen. Dabei löst diese Selbstverständlichkeit, mit der Gottes Zuwendung erwartet wird, keine Reaktion aus, die dieser entsprechen würde. Sie suchen Gott nicht, hören nicht auf sein Wort, folgen nicht seinen Geboten. Ihr Glaube ist eher eine religiöse Anschauung statt gelebte Gottesbeziehung.
Dem muss Jeremia widersprechen. Gott kann auch anders! Es ist Ausdruck seiner Souveränität, dass er sich nicht festlegen lässt. Er hat seine Nähe zugesagt, aber er kann auch schweigen und sich zurückziehen. Jeremia selbst hat Gott so erlebt und mit ihm gerungen. Jesus hat am Kreuz geschrien: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Die Rede vom fernen Gott klingt verwirrend. Sind seine Verheißungen nur vage Versprechungen? Haben wir es mit einem willkürlichen Gott zu tun? Die Spannung, Gott als fern und als nah zu erleben, lässt sich nicht auflösen. Darin wahrt Gott seine Unverfügbarkeit. Zugleich hält diese Spannung unseren Glauben lebendig, so dass dieser sich nicht in Selbstgefälligkeit auflöst. Sie motiviert dazu, Gott immer wieder neu zu suchen und sich - in Anlehnung an ein Zitat Luthers - vom fernen Gott zum nahen Gott „hindurchzuglauben“.
Dieser Glaube vertraut darauf, dass Gott in seiner Liebe zu uns steht und die Erfahrung seiner Ferne letztlich von seiner Nähe überholt wird. Diese Absicht gibt der Prophet Jesaja weiter, wenn er im Auftrag Gottes spricht: „Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr.“ Wer darauf vertraut, findet Trost und wird antworten: „Trotz Kreuz und Pein soll dies meine Losung sein: Näher, mein Gott, zu dir.“
Im Namen des Kirchenvorstandes und aller Mitarbeiter grüßt Sie herzlich
Ihr Pfarrer Daniel Förster